Fischschwarm

Der Schwarm schwimmt mit der Meinung.

Kolumne

Ein –zugegeben– pessimistisches Essay

Wer hat denn eigentlich Recht? Diejenigen, die die Wahrheit verbreiten? Oder diejenigen, die ihre Meinung am besten vertreten? Oder am Ende doch der, der am lautesten und schrillsten irgendetwas sagt? Aber wir wollen uns an dieser Stelle nicht in einem Diskurs verlieren, was „Recht haben“ überhaupt bedeutet und was diese „Wahrheit“ denn sein soll – am Ende stirbt sie ohnehin immer zuerst.

Denn die Frage, um die es jetzt geht, ist die nach demjenigen, der das Urteil fällt und ob es auch Gewicht hat. Es ist heute ja längst nicht mehr so, dass die Legitimation von Urteilsverkündern sich aus einem Studium und dem Erwerb bestimmter Qualifikationen und Titel speist. Eventuell noch in der Juristerei. Aber wo früher der Kritiker entschied, ob ein Werk gut oder schlecht ist, wo ehedem der Pfarrer erklärte, was moralisch angebracht ist, selbst wo früher ein Arzt eine Diagnose stellte, gilt heute: Die laute Masse spricht das Urteil. Krank – gesund, richtig – falsch, gut – schlecht, schön – hässlich. Opfer – Täter. Schwarmintelligenz, sagen die Optimisten. Schwarmdummheit, die Pessimisten. Wir halten es zunächst wie die Schweiz und bleiben bei der Schwarmmeinung.

Schwarmmeinung als Experiment:
Wer sich traut, teste es selbst (auf eigene Gefahr)

Wer dieses Phänomen empirisch untersuchen möchte, soll mal ganz unvoreingenommen in einem der gängigen Elternforen nach einem Tipp fragen, wie man das Kind abends vor 22 Uhr ins Bett bekommen könnte. Diese einfache Frage einer erschöpften Mutter in einem Forum oder sozialen Netzwerk zieht unweigerlich ein sich selbst nährendes, völlig verworrenes Geflecht an Meinungen, Unterstellungen und letztlich scharfen Anklagen nach sich. Liest man sich einen solchen Kommentarverlauf in der Retrospektive durch, eskaliert eine scheinbar harmlose Anfrage ungeheuer schnell in allgemeinen Dogmen: „Kinder müssen bis 20 Uhr schlafen, sonst entstehen Sprachstörungen“ bis gar zu einer Generalverurteilung einer ja völlig unbekannten Person: „Wer nicht genug (draußen) mit seinem Kind spiel und es nur vor den Fernseher setzt, der darf sich auch nicht wundern, wenn es nicht einschläft“.

Es ist durchaus erschreckend, mit welcher Wut sich ein Shitstorm in der mittigsten Mitte unserer Gesellschaft über eine Person aus der gleichen Peer-Group ergießt, die weder polarisierend noch aggressiv, sondern in friedlicher Absicht und haltsuchend in Kommunikation mit dem Schwarm treten wollte. Ohne Vorwarnung verwandelt sich die vermeintlich freundliche Herde in einen Mob, der ohne erkennbaren Anlass mit Forke und Fackel losstürmt und keine andere Meinung gelten lässt, außer die höchstpersönlich eigene – die aber auch nichts weiter ist, als eben eine Meinung. Denn in diesen Foren tummeln sich naturgemäß keine Psychologen, keine Kinderärzte oder Pädagogen. Der Grund für diesen entfesselten Zorn und das Ziel, auf das er sich richtet, sind bei den sich überschlagenden Ereignissen nicht auszumachen.

Liebende, marmelade-einkochende Mütter werden im Schutz der Anonymität blitzschnell zu geifernden Hyänen, ohne dass die eigene Brut in irgendeiner Gefahr schweben würde – oder überhaupt zur Debatte stünde. Es scheint letztlich immer darum zu gehen, die einzig richtige Wahrheit zu verkünden – und nur mit großem philanthropischen Wohlwollen kann man unterstellen: Um die anderen verblendeten, nicht so intelligenten, irrgeleiteten Menschen da draußen zu erleuchten und sie auf den richtigen Pfad zu führen. MIT ALLEN MITTELN!1!!! Gemeinsam ist der hetzenden Meute in jedem Falle eines: die Überzeugung der Überlegenheit.

Bevor nun jemand den Verdacht äußert, dass das Thema „Kinder“ ja nun einmal auch ein emotionales sei – derartige Entgleisungen lassen sich auch in einem höchst technischen IT-Forum beobachten, in das man beispielsweise die naive Frage stellt, wie irgendetwas bei irgendeiner Software funktioniert. Die Gemüter kochen auch bei den sonst eher stoischen Computer-Experten in Sekundenschnelle hoch und auf jeden Fall über.

Wir stehen alle auf der richtigen Seite. Ist nur ein bisschen voll hier.

Nun haben die Geschwindigkeit und vielleicht auch das Maß bei solchen Vorgängen dank der anonymen und von jedem nutzbaren Möglichkeiten des World Wide Web drastisch zugenommen. An sich ist das Phänomen natürlich nicht neu. Es wurde zuvor nur nicht so öffentlich und direkt ausgetragen und konnte damit auch nicht diese Vehemenz erreichen. Aber es ist aktuell unendlich leicht – ein Klick genügt – und man macht sich mit einer Sache gemein. Mit der Guten, natürlich! #metoo. Es ist so leicht. Es äußert sich jemand, ein anderer kommentiert und teilt – entfernt dabei den Gesamtzusammenhang, mischt dazu, was gerade richtig scheint und schon gibt es eine konsensfähige Aussage, die sich vor allem durch ihre Schachbrettartigkeit auszeichnet: „Mira Duma ist Rassistin“, „Dänen schlachten sinnlos Delfine“, „Schulz ist der Retter der SPD und der deutschen Demokratie … *hust* … ist deren personifizierter Untergang.“

Denn, apropos Schulz. Das Einheits-Gebrüll wird keineswegs lediglich von dahergelaufenen und unprofessionellen Nutzern sozialer Netzwerke veranstaltet. In den klassischen Medien nennt sich so etwas Kampagnenjournalismus und der ist schon älter als Facebook und Twitter zusammen. Wenn man sich also an den dekorierten und euphorisch hochgelobten Schulzzug und dessen kurz darauf erfolgte – nicht minder enthusiastisch betriebene – Entgleisung erinnert, gibt das ein sehr junges Beispiel, wie auch und gerade traditionelle Medien einhellig etwas bejubeln, um es bei Belieben auch wieder einmütig zu zerreißen. Denn nichts ist so schön, wie einer Meinung zu sein, über die Richtigkeit der eigenen Meinung. Erhaben. Das geht so lange gut, bis es eben auch mal gut ist. Dann wird umgeschwenkt. Interessant und ähnlich zu den sozialen Netzwerken ist dabei, wie sich die Masse immer an der Masse orientiert. Mit der gleichen Wirksamkeit eines schwarzen Lochs, scheint die Anziehungskraft hier von lauten, stumpfen, aber einfachen Schwarmmeinung unwiderstehlich und so folgen immer mehr, bis der Sog dazu führt, dass sich alle und alles immer mehr verdichten, bis zur finalen Explosion, die wiederrum alles auseinandertreibt, bevor es sich erneut zur großen Masse vereinigt.

Danke Merkel!

Man könnte jetzt einfach sagen „Danke Merkel!“ und in stoischer Lethargie weiter machen, wie gehabt. Was aber wäre – und diese Frage wird man ja wohl noch stellen dürfen – was aber wäre, wenn wir es schaffen könnten, ein gewisses Maß dieser Energien der Häme, Wut und des Hasses für etwas Konstruktives zu nutzen, statt für Defätismus?

Keine Ahnung. Aber wir arbeiten dran.

Bis dahin, hier noch was zum Runterkommen, nach all der Aufregung (wirkt am besten mit Ton):

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... berät in den (aus ihrer Sicht) wirklich spannenden Themen unserer Zeit: Wie arbeiten wir morgen? Wer arbeitet eigentlich überhaupt noch? Und wo kriegen wir die Leute her? Organisationsentwicklung, New Work, Employer Branding, interne Kommunikation - das sind ihre Disziplinen. Ihre Ausrüstung: Lachen, Apps und gesunder Menschenverstand.
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