Als der Dichter Dante Alighieri in seiner Göttlichen Komödie durch das Höllentor in die Vorhölle trat, erkannte er diese als Ort für die lauen Seelen, die weder gut noch böse waren,  rastlos in Scharen umherliefen und von Ungeziefer gepeinigt wurden. Und tatsächlich höre auch ich nun das Pfeifen von unsichtbaren Nagetieren hinter den Wänden. Ich ducke mich vor anfliegenden „Ratten der Lüfte“ weg. Und nur langsam trocknet der Luftzug der einfahrenden U5 meine Tränen, die mir ein überwältigender Uringestank ins Antlitz getrieben hat.

Bis über die Stadtgrenzen hinaus ist der Übergang von S- zu U-Bahn im Frankfurter Hauptbahnhof für dieses Geruchs-Inferno berüchtigt.

Zwar ist neben der Deutschen Bahn nun auch die Gemeindeverwaltung der Mainmetropole redlich bemüht mittels Hochdruckreinigung dem teuflischen Gestank Herrin zu werden. Das Unterfangen gleicht aber der Arbeit des Sisyphos, den wir uns ja nach Albert Camus  ebenfalls als einen glücklichen Menschen vorstellen dürfen.

Und bisweilen sind die Mühewaltungen derart erfolgreich, dass sie einen olfaktorischen Kehrwert erzeugen, der im Ergebnis zwar zitronig-frisch nach WC-Stein riecht, in der Konsequenz das Gemüt aber nicht weniger bedrückt. Denn er erinnert mich daran, in einer Welt zu leben, in der meine Limonade künstliches Zitronenaroma, mein Geschirrspülmittel dafür echten Zitronensaft enthält.

„Lasst, die Ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!“ (Göttliche Komödie, 3.Gesang, Vers 1-9)

Während in anderen deutschen Großstädten Hauptbahnhöfe zu verglasten Einkaufszentren mit angeschlossenem Gleisverkehr umgebildet werden, in denen Reisende nicht mehr nur Proviant sondern nötigenfalls auch ein Abendkleid erstehen können, verscharren andere Regiopolen ihre Bahnhöfe in Milliardengräbern am Grunde ihres Talkessels. Wobei die dafür Verantwortlichen die Hoffnung hegen, sie mögen nach dekadenlanger Bauzeit die Schlussrechnung nicht mehr erleben.

Unterdessen ereignet sich in Frankfurt diesbezüglich: nichts.

Schade, denn dort blickt die, falls die Rauchschwaden der vorgelagerten Bratwurstbude es zulassen, durchaus ansehnliche Fassade des Hauptbahnhofes in Manier der Neorenaissance auf ein Betonplateau herab, das einerseits von Dixiklos, andererseits von einer Koppel Taxis flankiert wird. Fraglos ein Eingangstor, das sich in ein trendiges und demgemäß rasant gentrifiziertes Bahnhofsviertel öffnet, an dessen Ende verheißungsvoll die Bankentürme glitzern und das gerade deshalb hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt.

Gewebe aus Kabeln und Versorgungsleitungen

Dabei war der Umbau des Frankfurter Kopfbahnhofes und damit nicht nur die Sanierung seines Unterbaus, sondern auch die Neugestaltung seines Vorplatzes schon in greifbare Nähe gerückt und hatte bei KommunalpolitikerInnen, Stadtteilinitiativen und Gewerbetreibenden im Umfeld um das Verkehrsbauwerk große Erwartungen geweckt. Und zwar so detailliert, das nicht nur die unübersichtliche Verkehrsführung vor dem Bahnhofsportal neu gestaltet werden sollte, sondern auch schon Ideen diskurriert wurden für Denkmäler sowohl für die GastarbeiterInnen, die in den 60ern hier ankamen, als auch für die Kinder jüdischer Familien, die an gleicher Stelle wenige Jahrzehnte zuvor die Reise ins rettende Ausland angetreten hatten.

Doch dann die Hiobsbotschaft, dass der geplante Baubeginn um zwei Jahre aufgeschoben wird. Zusammen mit der geplanten Bauzeit von drei Jahren lässt sich erahnen, was sich dort bis Beginn der 20er Jahre dieses Jahrhunderts zum Besseren wandeln wird: nichts. Auch in den nächsten Jahren bleibt also in der weitläufigen B-Ebene des Bahnhofsgebäudes der Blick freigegeben auf die offene Decke mit ihrem Gewebe von Kabeln und Versorgungsleitungen, die damit den Liebreiz eines offenen Beines verströmt.

Harmlos, wenn man weiß, wie viel Stadt, Polizei, Bahn und nicht zuletzt die PendlerInnen auf die Neugestaltung dieser Verteilerebene gesetzt haben. Denn wie wohl in den meisten Bahnhofsgebieten der Welt floriert dort auch in Frankfurt eine recht unverblümte  Drogenszene. Die verwinkelte B-Ebene unter der Bahnhofshalle mit ihren wurmstichigen Wandbekleidungen, aufgebogenen Verblendungen und Nischen lädt mit diesen vielgestaltigen Drogenverstecken zu schwunghaften Handel ein.

Im Reich des Schattengewerbes

Wenn ich also für einige Minuten dort verweile und um Orientierung ringe, muss es mich nicht wundernehmen, wenn unvermittelt ein Vertreter dieses Schattengewerbes unter konspirativen Blicken, Zischlaute zur Geschäftsanbahnung aussendet. Was wiederum mein Gemüt bedrückt, denn es zeugt einerseits von einer tiefen geistigen Unvornehmheit, wirft aber gleichsam die Frage auf, weshalb mir jemand Crack andienen wollte, wenn ich nicht selbst durch eine bestimmte wurmstichige Anmutung für ihn augenfällig geworden wäre.

„Rien“

Zuweilen also eine Sphäre geprägt von unmanierlichen Leuten in der ich, die mit einem gewissen Erfahrungsschatz an Urbanität der Sitten beschenkt ist, bestehen kann, die aber vor allem bei Auswärtigen mehrheitlich Vorsichts- und Abstandsgefühle weckt und ihre Wohlerzogenheit stark in Anspruch nimmt. Denn jene verknüpfen mit Frankfurt je nach Ansinnen der Reise und Herkunft entweder funkelnde Wolkenkratzer oder Altstadtarchitektur. Harngeruch und Strauchdiebe jedoch nicht.

Aus gutem Grund. Denn um der eigenen und der Erwartungshaltung der BesucherInnen gerecht zu werden, stampft Frankfurt nahebei ein ganzes, „neues“ Altstadtviertel und mehrere Wohn- und Bürotürme aus dem Boden. Der örtliche Flughafen sogar gleich ein drittes Terminal.

Unterdessen geschieht am Frankfurter Hauptbahnhof, immerhin einem der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte der Republik, nach wie vor Eingangsportal zur Stadt und damit unweigerlich ihr Aushängeschild: nichts. Ebendies schrieb Ludwig XVI. am 14. Juli 1789 in sein Jagdtagebuch: „rien“.

Der Rest ist Geschichte.