Verkehrschaos und Dauerstau

Fortbewegen ohne gegen die Wand zu fahren

Verkehr verkehrt. Dieselskandal. Fahrverbote. Dauerstau. Stickoxide. Niedrigwasser. Marode Brücken. Überlastete Flughäfen. Volle und verspätete Züge. Proteste gegen den Ausbau von Flughäfen, Bahnhöfen, gegen Fluglärm und Tempo 130. – Mobilität soll grenzenlos sein und stößt an ihre Grenzen. Und über allem schwebt der Klimawandel. Wie soll das zusammen gehen? Antworten von Jürgen Schultheis, Verkehrsfachmann und Inhaber des Verkehrskontors FrankfurtRheinMain, ehemals Reporter und Redakteur der Frankfurter Rundschau.

Erinnern Sie sich an den vergangenen Sommer? An die wundervollen Abende mit Wein und Bier auf der Veranda oder im Biergarten? An die stimmungsvollen CO2– und NOx-umwehten Nächte in Straßencafés und Weinbars im Zeichen grenzenlosen Genusses? Dieter Nuhr hat das in seinem Jahresrückblick so wunderschön formuliert: „Ich fand den Sommer toll. Wenn das die Klimaerwärmung war … Ich bin teilweise abends extra noch mit Vollgas im ersten Gang um den Block gefahren, damit es so bleibt.“  

Keine Frage, sowas gibt es wirklich Nuhr im Ersten. Man fühlt sich ja verstanden von dem Mann aus Wesel. Er nimmt uns den Druck, den Gutmenschen aufbauen, entlastet das Gewissen, weil man diesen Untergangs- und Horrorszenarien ohnehin keinen Glauben schenken möchte… Und noch weniger möchte man hören auf „SPIEGEL, Süddeutsche Zeitung und Tagesspiegel mit ihrer völlig informationsfreien, schlecht gelaunten Stimmungsmache“ (Nuhr). 

Deutschland atmet auf, Deutschland kann auch aufatmen: Die Stickoxidbelastung im Verkehr beeinträchtigt unsere Gesundheit einstweilen nicht oder kaum, da sind sich komische Kabarettisten und sendungsbewusste Pneumologen einig. 

Glaube an das Immer-Mehr erschüttert

Also rein in die Feinstaubschwaden, Stickoxidwolken und ins Kohlendioxidgas – nichts wirkt besser gegen die kontaminierten Sätze miesepetriger Null-Informations-Schreiberlinge. Seid pegidisch, zeigt den Klimawandelschwaflern Eure erzgebirgischen Galgen, liebevoll in Heimarbeit gezimmert, steht euren Mann, wehrt Euch gegen den „Suizid auf höchstem moralischen Niveau“ (Nuhr über die befürchtete Abwicklung der Dieseltechnik) und atmet tief durch – es schadet ja nichts. 

Wir kommen an unsere Grenzen, und die Erfahrung schmerzt nicht Pneumologen und andere Entlaster: Ob Klimawandel oder Fahrverbote  – zum ersten Male wird unser Glaube an den Infinitismus der Moderne, vom dem der Philosoph Vittorio Hösle spricht, der Glaube an das Immer-Mehr-Wollen, durch Umweltkatastrophen so stark erschüttert, dass wir den kapitalen Wandel nicht mehr ignorieren können.  

Die verhängten Fahrverbote als Ausdruck von Grenzerfahrung mögen nur ein kleines, im Grunde harmloses Beispiel sein für eine Vielzahl von Grenzerfahrungen ganz anderer Dimension – aber kaum eines erschüttert uns so tief, wie die Nutzungseinschränkung unserer Selbstzünder. Weil das Auto – ob diesel- oder benzingetrieben – nicht nur Symbol des bundesdeutschen Aufschwungs ist und für deutsche Ingenieurskunst steht, sondern auch das Symbol schlechthin ist für persönlichen Erfolg und Wohlstand.  

Es schmerzt, weil wir mit einem Male erfahren, dass es ernst wird mit dem Versprechen, die Erderwärmung auf 1,5 °C bis zum Jahrhundertende zu begrenzen. Und dass dieses, in seiner Dimension und Wirkkraft vollkommen unterschätzte Vorhaben, das vermutlich größte Projekte in der Menschheitsgeschichte, tief hineinreichen kann in unsere Gewohnheiten, unsere Art zu leben und das, was wir sehr allgemein „Freiheit“ nennen. 

Grenzen der Biosphäre

Es sind Grenzen, die wir einhalten sollten, weil sonst die Wüsten zu groß werden, weil Ackerflächen vertrocknen und küstennahe Anbaugebiete versalzen würden, weil Jahrhundertstürme und Taifune im Drei-Jahres-Rhythmus wiederkehren würden. Und weil sich zig Millionen Menschen auf den Weg machen würden, um Orte zu finden, wo Überleben möglich scheint. Orte, wo sie nicht immer willkommen sind.

Es sind Grenzen, die jenseits von links und rechts, von Kapitalismus und Kommunismus, von Glauben und Annahmen, von Staat und Wirtschaft gesetzt sind – Grenzen, die von unserer Biosphäre gezogen werden. Die unsere Matrix definiert, die für unser aller überleben so wichtig ist, und die nach beschreibbaren, hochkomplexen Prozessen das Leben aller Organismen reguliert und gewährleistet.

Grenzen, die von der Erdsystemwissenschaft ausgelotet werden und in den Planetary Boundaries, der Tragfähigkeit des Planeten, ausgedrückt werden.

Aber noch respektieren wir die Grenzen nicht oder lassen ihren Verlauf verschleiern, wenn Dienstlinge der Pleonexie wie die Nuhrs dieser Welt uns glauben machen wollen, dass es diese Grenzen nicht gibt. Dass es nichts ausmacht, wenn der Kohlendioxidanteil in der Atmosphäre heute schon bei 410 ppm liegt und damit deutlich über dem empfohlenen Wert von 350 ppm. 

Es ist die Lust an der großen fossil-energetischen Sause, die die Erdatmosphäre aufheizt, die Lust an den großen adipösen Autos, die immer mehr Leistung brauchen, weil sie immer schwerer werden. 23 % trägt der Verkehrssektor, die Hälfte davon der Straßenverkehr, zu den globalen CO2-Emissionen weltweit bei. Und der Anteil wächst, nicht zuletzt wegen der wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung in den Nicht-OECD Staaten in Asien oder in Afrika.

15.000 Wissenschaftler warnen

Aber mit jedem Teil des anthropogen erzeugten Kohlendioxids wird es ein bisschen wärmer auf Mutter Erde. Und das sieht dann beispielsweise so aus für das vergangene Jahr: „Die Folgen waren und sind zum Teil dramatisch: Neben verheerenden Waldbränden im Süden Europas und in Skandinavien waren in Deutschland große Ernteausfälle zu beklagen. Darüber hinaus führen fast alle Flüsse teilweise extremes Niedrigwasser, und sämtliche Verkehrsträger (Straße, Wasserstraße, Schiene und Luft) haben mit Schwierigkeiten und Ausfällen zu kämpfen, außerdem traten Schäden an Infrastruktureinrichtungen auf“, heißt es in einer Mitteilung des Center for Disaster Management and Risk Reduction (CEDIM).

Es sind Kosten, die entstehen, weil wir im Zuge unserer Pleonexie, des Immer-mehr-haben-Wollens, die Grenzen immer und immer wieder überschreiten. Hinweise und Warnungen der vergangenen Jahrzehnte haben daran wenig geändert. 1992 hatten mehr als 1500 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Erklärung World Scientists´ Warning to Humanityveröffentlicht: „Human beings and the natural world are on a collision course. Human activities inflict harsh and often irreversible damage on the envrionment and on critical resources“, heißt es in der Erklärung, die unter anderem von 99 der damals noch lebenden 196 Nobel-Preisträger unterzeichnet worden war.

Im Herbst 2017 haben dann weltweit mehr als 15.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Warnung von 1992 wiederholt und bekräftigt: „Since 1992 … humanity has failed to make sufficient progress in generally solving these forseen environmental challenges … Especially troubling is the current trajectory of potentially catastrophic climate change due to rising GHGs from burning fossil fuels.“ 

Als hätte es noch eines weiteren Warnrufes bedurft, hat der Weltklimarat im Oktober 2018 in aller Vorsicht darauf hingewiesen, dass auch die Selbstverpflichtungen aus dem Pariser Klimaabkommen von 2015 nicht dazu führen werden, den menschengemachten CO2-Ausstoß zu reduzieren. Im Gegenteil: Statt aktuell 42 Gigatonnen werden vermutlich – sofern alle Staaten ihre Selbstverpflichtungen erfüllen – bis 2030 etwa 52 bis 58 Gigatonnen jährlich an Kohlendioxid ausgestoßen werden. 

Dieseldebatte als Scheindebatte

Konsequenzen aus dieser Entwicklung haben bisher nur wenige gezogen, auch wenn neben dem Weltklimarat und der Internationalen Energieagentur auch Institutionen wie der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, der Sachverständigenrat für Umweltfragen oder Philosophen wie Hans Jonas oder Vittorio Hösle immer wieder daran erinnert haben. 

An Klarheit der Aussagen hat es jedenfalls nicht gefehlt: „Der Mensch wird viele der Bedürfnisse abstreifen müssen, die er sich in den letzten vierzig Jahren zugelegt hat und die der Umwelt schaden, ja deren Universalisierung die Erde zerstören müsste“, schreibt Hösle in seiner „Philosophie der ökologischen Krise“ (1990). 

Vor diesem Hintergrund ist die aktuelle Dieseldebatte eine Scheindebatte, womöglich sogar eine schlechte Farce. Sie lenkt – mit einer Ausnahme – von der eigentlichen Diskussion ab: Dass wir bis 2050 nicht nur emissionsfrei unterwegs sein müssen, sondern dass wir im Zeitalter des Anthropozän unsere westliche Lebensweise grundsätzlich ändern müssen, weil wir sonst alles aufs Spiel setzen. Wir müssen wieder lernen, Nein zu sagen und den Verzicht zu lieben, um mit Hösle zu sprechen.  

Dass nebenbei das Ende des Verbrennungsmotors längst eingeläutet ist, fällt dann eher in die Kategorie einer Petitesse. Mehr als elf Staaten weltweit haben inzwischen ein Verkaufsverbot angekündigt. China, der größte Automarkt der Welt, wird sich zu dieser Frage vermutlich bald äußern. 

Politik für den Wandel fehlt

Offen bleibt eine der heikelsten Fragen: Wie lässt sich der Pfadwechsel vom Verbrenner hin zum nahezu emissionsfreien Pkw sozial verträglich gestalten? Wie kann es gelingen, dass Mobilität – die mittelfristig teurer werden wird – für jede und jeden bezahlbar bleibt, damit Teilhabe nicht weiter eingeschränkt wird?   

Hören wir auf, Scheindebatten zu führen und uns mit Petitessen die Zeit zu stehlen. Pfeifen wir die Ideologen und Populisten aus, die uns weismachen wollen, dass alles halb so schlimm sei. Wir wissen, was zu tun ist, und wir haben die Mittel, den Kurs zu ändern – aber nicht die Politik, die bereit wäre, auf neuen Kurs zu gehen.

Helfen wir ihr dabei, sich zu besinnen – zu ihrem und zu unserem Wohl. Welcher Anlass wäre besser geeignet als der 250. Geburtstag von Alexander von Humboldt. Der „Shakespeare der Wissenschaft“, der die Wechselwirkungen in der Natur begriffen und die Zusammenhänge vermitteln hat. Zehn bis 15 Jahre bleiben uns noch für die Kurskorrektur. Dann wird es ungemütlich – nicht nur wegen der Fragen, die uns unsere Kinder und Enkelkinder stellen werden. 

Dieter Nuhr fand den Sommer jenseits der vorgetragenen Faktenhuberei richtig toll. Und ja, er hatte in seinem Jahresrückblick auch den Hambacher Forst zum Thema gemacht und über Katja Kipping gesagt, Sie hätten Sie gerne für Ihre Krippe, weil Ihnen ein Schaf fehlt. Uns fehlt ein Ochse im Stall. Ich denke, wir haben ihn gefunden …

Eine detaillierte Analyse von Klimawandel, fossilen Brennstoffen und Autoverkehr finden Sie hier http://bit.ly/JS_Diesel

Jürgen Schultheis, ehemaliger Reporter und Redakteur der Frankfurter Rundschau, ist Inhaber des Verkehrskontors FrankfurtRheinMain und Verkehrsexperte.
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