Quo vadis Volkspartei?

Im Bund und in Bayern ist die SPD abgestürzt. Bei der Hessenwahl drohen Verluste. Aber auch die CDU/CSU musste Federn lassen. Es ist nicht zu übersehen: Die Volksparteien erodieren. Wohin taumeln sie? Haben sie sich historisch überlebt? Treten andere ihr Erbe an? Brauchen wir sie noch? Und wenn ja, wie können sie sich neu erfinden? Klaus-Peter Schmidt-Deguelle, einst Journalist, dann rot-grüner Regierungssprecher in Hessen, später Spin-Doctor der Regierung Schröder-Fischer, heute Kommunikations- und Politikberater in Berlin, hat eine Antwort.

„Das Leben ist ungerecht und für die meisten von uns ist das gut so“, das schrieb einst Oscar Wilde. Die SPD und die CDU in Hessen werden das kaum unterschreiben und die Wähler jeder für sich bestimmt auch nicht. Aber mehrheitlich werden sie sich am Sonntag wohl so entscheiden.

Die CDU hat wenig falsch gemacht, auch weil sie viel zu wenig gemacht hat – die SPD konnte mangels Regierungsbeteiligung nicht viel machen in den letzten 19 Jahren, aber deshalb auch wenig richtig. Beide werden dennoch in Hessen wie schon in Bayern die großen Verlierer sein, ob sie sich davon erholen ist mehr als fraglich. Gerecht ist das nicht.

‚Volksparteien‘ beim Sterben zuzusehen ist für die professionellen politischen Beobachter sicher ein spannendes Experiment. Für die Demokratie in Deutschland bedeutet es Alarmstufe II.

Dieses Land hat seine über 70 Jahre glückliche Nachkriegsgeschichte, seine Freiheit, seinen Wohlstand, seine Sicherheit und seinen Frieden der Tatsache zu verdanken, dass die Verantwortlichen in den beiden ehemals großen Parteien abwechselnd oder auch gemeinsam grundsätzlich das Wohl aller im Auge hatten und danach handelten.

Anker im Nachkriegsdeutschland

Trotz der nicht aufgearbeiteten Nazi-Zeit unter Adenauer und bei allen wirklichen und aufgebauschten Skandalen und Affären späterer Jahre, unter dem Strich waren Sozial- und Christdemokraten die Garanten der positiven Entwicklung dieses Landes bis – ja bis sie die Zeichen der Zeit nicht mehr erkannten.

Das begann 1968 und kulminierte mit der ‚Geburt‘ der Grünen 1980.

Die Umweltbewegung war ja nicht nur links, sie war z.T. zutiefst bürgerlich und konservativ. Ich habe es selbst erlebt, als ich 1972 als Student aus Freiburg mit Winzern und Bauern in Wyhl gegen das dort geplante Atomkraftwerk demonstrierte und die Anti-AKW Bewegung mit aufbaute. Das Entstehen einer Umweltpartei war überfällig und logisch, weil die ‚Sozis‘ und die ‚Bürgerlichen‘ viel zu kurzsichtig und ‚machtversessen‘ waren.

Wie weitsichtig die Grünen waren, wissen wir heute – nach Tschernobyl und Fukushima. Sie sind ‚Fleisch vom Fleische‘ beider Volksparteien und sie haben heute Antworten auch auf andere Fragen und Probleme unserer Gesellschaft.

Braucht es also SPD und CDU nicht mehr? Doch! Das behaupte ich jedenfalls. Die Wähler der Grünen werden und müssen sie nicht zurückgewinnen, sie sind Verbündete und Partner. Die SPD muss sich um die Wähler der ‚Linkspartei‘ kümmern, die CDU um die der AfD! Das gilt für den Bund und das gilt für die Länder.

Gefühlte Erosion  

Viele Menschen in Deutschland sind nicht nur verunsichert, viele haben Angst. Vor Abstieg, vor Wohnungsnot, vor Altersarmut, vor Vereinzelung, vor dem Klimawandel, u.v.m. Sie empfinden Wut über Politik- und Behördenversagen mit Kontrollverlust, über Willkür und Abzocke, über Anonymisierung im nicht mehr durchschaubaren digitalen Alltag – kurz: Angst vor einer Welt, die an allen Ecken und Enden aus den Fugen gerät, wo gelernte und gewollte Selbstverständlichkeiten zerrieseln und die Schere zwischen arm und reich stetig weiter klafft, die Anonymisierung der Gesellschaft und die Atomisierung ihres Zusammenhaltes unaufhaltsam scheint.

Die komplizierten, langatmigen Antworten der Regierenden darauf sind für die Regierten inzwischen zu komplex, zu unverständlich und auch zu hilflos.

Merkels Vermutung und Behauptung, dass wir unsere Außengrenzen nicht mehr kontrollieren können, bewirkte die Implosion des Demokratiekonsenses: nämlich das Sich-Verlassen auf die Fähigkeiten und die Sinnhaftigkeit der Politik und der gewählten Repräsentanten. Jedenfalls bei den Wählern der Volksparteien und z.T. auch der Linkspartei.

Die Grünen und ihre Wähler waren und sind auf der ‚besseren und guten Seite‘: einer offenen Gesellschaft, zuständig für Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit, glückliche Schlachttiere und die Zukunft des Planeten.

Zäsur 2015

Die Zahl von über einer Million Flüchtlinge in 2015 hat in diesem Lande etwas grundsätzlich verändert: Das mehrheitliche Grundvertrauen in unser demokratisches System und die Problemlösungskompetenz der Politiker ist einem mehrheitlichen Grundmisstrauen gewichen.

Das ist die Stunde der einfachen Erklärungen und Antworten, die Chance der Populisten. Ob Trump, Lega(Nord), Cinque Stelle, Rassemble(Front)National, Wahre Finnen, Schwedendemokraten, FPÖ, Orbans FIDES, Kaczyńskis PiS, Wilders PVV, der Flaamse Block, die Rechtsnationalen in Tschechien, der Slowakei oder Kroatien und nächste Woche Bolsonaro in Brasilien.

Sie haben eine Grunderzählung: Unser Volk, unser Land, unsere Kultur zuerst. Das ist zu bewahren, das hat Vorrang! Das ist die Lösung aller eurer Probleme.

Wer will es den Hoffnungslosen wirklich verwehren, dies erst einmal – bis zum Beweis des Gegenteils – zu glauben und danach zu wählen? Wer bietet Ihnen eine bessere Lösung? Das ist und bleibt die Aufgabe der alten Volksparteien.

Auch wenn es ihr ‚Volk‘ so nicht mehr gibt, nie mehr geben wird und ‚das Völkische‘ nicht die Alternative sein kann und darf, es muss eine neue Bestimmung, ein neues Ziel und dafür eine neue Erzählung her!

Europa!

Es gibt sie, sie muss nur entstaubt und ins richtige Licht gerückt werden: Europa.

Zeus raubte die Königstochter ‚Εὐρώπη‘ in Kleinasien und brachte sie nach Kreta; Griechenland, dann Rom, der ‚Ting‘ der Nordmänner, Artus Tafelrunde … Mythen und Vorformen europäischer demokratischer Evolution.

Dann wurde es ernst: die ‚goldene Bulle‘ Kaiser Karls von 1356 hielt 450 Jahre und setzte absolutes Recht, Britanniens ‚Bill of Rights‘ von 1689, die polnische und die französische Verfassung von 1791 eine konstitutionelle Demokratie, in Deutschland dann die ‚Paulskirche‘ 1848/49.

Es war noch kein demokratisches Europa und erst recht kein friedliches. Das Europa der egoistischen Nationalstaaten, die Politik der Hegemonialmächte und dann der Deutsche Größenwahn hat die beiden größten und schlimmsten Kriege der Weltgeschichte verursacht. Wenn man jetzt den Höckes, Gaulands, Weidels, von Storchs und Konsorten die Hoheit über die Interpretation der Geschichte Europas überlässt, werden sie die AfD zur Volkspartei machen.

 

Klaus-Peter Schmidt-Deguelle war Journalist, dann rot-grüner Regierungssprecher in Hessen und später Spin-Doctor der Regierung Schröder-Fischer. Heute arbeitet er als Kommunikations- und Politikberater in Berlin.

 

CDU und SPD müssen und können die wahre, die richtige Erzählung über Europa den Menschen nahebringen und sie dafür gewinnen: Wir haben einen gemeinsamen Markt, die Europäische Union, eine gemeinsame Währung. Diktaturen wurden gestürzt, Demokratie setzte sich überall durch. Reisefreiheit in einem Europa ohne Binnengrenzen gilt jetzt für alle. Jeder Arbeitnehmer kann überall in Europa arbeiten, jeder Unternehmer kann überall Unternehmen gründen, alle Waren können überall zollfrei gehandelt, Dienstleistungen überall angeboten werden. Junge Menschen können überall ihre Ausbildung machen, an allen Universitäten Europas studieren, sie können – wie wir alle – die kulturelle Vielfalt Europas und auch die ihr zugrunde liegenden gemeinsamen Werte und Traditionen erleben. Und 73 Jahre Frieden, das gab es nie in den Jahrhunderten zuvor.

Das alles ist Europa, viel mehr als nur ein ökonomisches Projekt, ein kulturelles Projekt, ein zivilisatorischer Fortschritt, um den uns die ganze Welt beneidet. Das ist die Antwort auf Populismus.

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