Der Ruf der Wildnis

Das zentimeterbreite Rinnsal biegt nach rechts ab, dann am Ende der Fuge nach links und treibt eine Mini-Bugwelle von Staub vor sich her. Als der Zustrom anschwillt, überwindet es die Oberkante des Basaltsteins und ergießt sich über die Oberfläche des Jerusalemer Straßenpflasters. An seiner Quelle stehen drei Männer fröhlich miteinander schwatzend in einer wenige Meter entfernten Gasse und pinkeln gegen eine Hauswand.

Offenbar ist keine Stadt so heilig, dass sie nicht wie alle anderen der Welt zu einem Bruchteil auch aus Urinstein bestünde. Je älter, umso mehr.

Man könnte denken, dass es der Hauch der Geschichte sei, der einen kretischen Göttertempel, einen Weltkriegsbunker in der Normandie oder eine klamme Ritterburg auf den Rheinfelsen so riechen lässt, wie eine Fußgängerunterführung. Doch es ist die Problemlage, die Notdurft in geschlossenen Siedlungen und bebauten Flächen zu verrichten, die den sesshaften Menschen seit der Jungsteinzeit begleitet. Wobei die zivilisatorische Domestizierung dieses Naturtriebes bis heute nicht durchweg gelungen ist.

Wasserlassen des Urmenschmannes

Harndrang ist bekanntlich keine rein männliche Herausforderung, doch wird sie im urbanen Raum von ihnen am ungezwungensten gelöst. Frauen brauchen für das Wasserlassen nur den Boden unter sich und idealerweise einen Sichtschutz. Die Verunreinigung beschränkt sich somit nur auf den Boden (die eigenen Füße nicht mitgerechnet).

Herren dagegen benötigen Ziel und Richtung. Die Gründe dafür wurden wohl vor Jahrmillionen im Gehirnkern des Urmenschenmannes angelegt und sind heute nicht mehr nachvollziehbar. Das erweitert jedoch die Flächenverschmutzung um eine zusätzliche Dimension. Denn es liegt in der Natur der Stadt nicht aus Büschen und Bäumen, sondern aus Hauswänden zu bestehen.

Natürlich zögen geschlechtsunabhängig alle, die noch halbwegs nüchtern und in der Zivilisation verankert sind, die Benutzung einer Toilette vor. Doch in Frankfurt weist die Übersichtskarte der öffentlichen Bedürfnisanstalten große Lücken auf. Ausgerechnet dort, wo der Stadtmensch gerne zum Konsum geisthaltiger Getränke zusammenkommt, sind sie meist außer Reichweite.

Längst kennen erfahrene Passanten auf ihren Strecken die notorischen Pinkelecken und begegnen Pfützen mit großem Misstrauen und ausreichend Anlauf, wohlwissend, dass in ihnen kein Regenwasser steht.

„Der Leib hat so wie der Geist seine Bedürfnisse.“ (Rousseau)

Die Daseinsvorsorge sicherzustellen, ist erste Pflicht politisch Verantwortlicher. Die Überwachung von Trinkwasser, Geländerhöhen, Treppenstufenbreiten und Feuerwehraufstellflächen gehört unter vielem anderen dazu. Die Kür ist das Bemühen um ausreichend Hundeauslaufwiesen, Mülleimer und Parkbänke. Keine Sitzung der Stadtteilparlamente, in der nicht zu letzterem mindestens ein Antrag dazu ausführlich debattiert und beschlossen wird.

„Es gibt wichtigere Probleme in dieser Stadt zu lösen“, ist dagegen die Worthülse, wenn sehr selten und meist ergebnislos die Frage der Toilettenversorgung besprochen wird. Sie klingt aber nur für diejenigen richtig, die nicht gerade in einem Frankfurter Wohngebiet von einem Bauchgefühl überrascht werden, das dringendsten Handlungsbedarf anzeigt und nicht den geringsten Aufschub mehr duldet.

Trotzdem waren es nur wenige, die sich vom verschämten Kichern und derben Zoten emanzipieren konnten und am vergangenen 19. November, dem Welttoilettentag, im (bezeichnenderweise) provisorischen „Zukunftspavillon“ auf dem Frankfurter Rossmarkt zusammenkamen um aufgeklärt und lösungsorientiert Fragen von zeitgemäßer Stadtraumhygiene zu besprechen.

Vorbild Japan

Denn es ist kein Aushängeschild für die Bankenstadt, die sich mit ihrer Internationalität schmückt, dass in ihren Straßen nicht nur der Wind von Weltoffenheit und Business weht, sondern auch der von kleinem und großem Geschäft.

So wundern sich japanische Reisegruppen in Frankfurt regelmäßig nicht nur über die unbeheizten Klobrillen, sondern vielmehr über die Unauffindbarkeit öffentlicher Aborte in der Mainmetropole. Denn in ihrem Land genügen öffentliche Toiletten höchsten qualitativen und quantitativen Ansprüchen. Nicht selten sind dort im Spülkasten zur Gewährleistung aller undenkbaren Funktionen Computerchips verbaut, die die Rechenkapazität der ersten Mondfähre des Apollo-Programms weit in den Schatten stellen.

Selbst in vielen Schwellenländern sind öffentliche WC-Häuschen zur Bekämpfung des Wildpinkelns an viel besuchten Orten in regelmäßigen Abständen zu sehen. Die Reinigungsintervalle spotten allerdings jeder Beschreibung und die Gestaltung der Porzellanbecken lässt nicht immer auf den ersten Blick erkennen, welche Körperhaltung hier zur Verrichtung einzunehmen ist. Zudem ist nicht immer fehlerfrei zu deuten, was hier nun erlaubt ist und was nicht, so dass erheiterndes aber für die Betroffenen hochnotpeinliches Videomaterial im Netz zu finden ist, dass sie bei der irrtümlichen Verwendung des Spülsteins als Handseife zeigt.

In zahlreichen Weltstädten finden sich aber auch durchdachte Lösungen für öffentliche Urinale, die beispielsweise nur abends aus dem Boden gefahren werden um tagsüber nicht das Stadtbild zu beinträchtigen oder so gestaltet sind, dass sie Vandalismus widerstehen, soziale Kontrolle gegen Missbrauch gewährleisten und sich dennoch unaufdringlich in ihre Umgebung einfügen.

Kein Gewinnerthema

Viel bescheidener hatten es sich die Ortsbeiratsvertreter des Frankfurter Bahnhofsviertels vorgestellt, als sie den Magistrat beauftragten, ein schlichtes, kostengünstiges und der Einfachheit halber in einen Straßenablauf ableitendes Urinal an einer Ecke aufzustellen, die zum Leidwesen der Anwohner besonders stark von Wildpinklern heimgesucht wurde.

In einem mehrjährigen Prozess errichtete die Stadtverwaltung daraufhin ein technisches Ingenieursbauwerk, für das in einem aufwändigen Verfahren unter Straße hindurch gebohrt werden musste. Es ist das bislang einzige geblieben.

Das mit dem letzten städtischen Haushalt beschlossene Toilettenkonzept harrt gleichfalls noch der Umsetzung, so dass auch in der nächsten Zeit nur eine eilig auf die Theke geworfene Euromünze den Weg zur Erleichterung auf einem Kneipenklo erkaufen kann.