Die Großstadtneurotiker

In der Stadt sind nicht alle Menschen gleich. Im Gegenteil: Viele geben sich große Mühe es nicht zu sein. Um sie als Zielgruppe zu erreichen, braucht es deshalb Kommunikationskanäle und –strategien, die nicht nach Normalität und Mainstream klingen dürfen.

In der Nacht der Geburt Alexander des Großen, wurde in Ephesos der Artemistempel angezündet und brannte nieder. Mit 200.000 Einwohnern war Ephesos so groß wie das heutige Rostock und zu seiner Zeit eine der größten und bedeutendsten Städte der damals bekannten Welt. An der kleinasiatischen Mittelmehrküste gelegen waren ihr jedoch deutlich mehr Sonnenstunden als der mecklenburg-vorpommerschen Hansestadt vergönnt.

Brandstifter am 200 Jahre alten und von König Krösus erbauten Heiligtum war Herostratos. Unter Folter nannte er als sein Tatmotiv den Wunsch, unsterblichen Ruhm zu erlangen.
Das daraufhin verfügte Verbot weder Tat noch Täter zu nennen und sein Andenken auszulöschen blieb, wie wir sehen, ohne Wirkung.

Im 700.000 Einwohner zählenden Frankfurt, Verkehrsknotenpunkt und Wirtschaftszentrum Europas sowie Standort des ersten demokratischen Parlaments Deutschlands wurde vergangenen Herbst der immerhin 86 Jahre alte Goetheturm angezündet, der daraufhin bis auf die Grundpfeiler niederbrannte. Das gleiche Schicksal hatte einige Monate zuvor schon den koreanischen Pavillon im Grüneburgpark und den chinesischen Pavillon im Bethmannpark ereilt. Später zerstörte Feuer auch die Kindertagesstätte der Waldorfschule und das Blaue Haus am Mainufer. In allen Fällen ist von Brandstiftung auszugehen.

Zumindest in dem Fall aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. war übersteigerter Geltungszwang Auslöser der Wahnsinnstat. Hinsichtlich der Brandserie des 21. Jahrhunderts gibt es noch keine gesicherten Erkenntnisse, doch der Täter kann sicher sein, dass in Zeiten des Internets weder er noch seine Tat kurzerhand aus den Steintafeln heraus gemeißelt und damit vergessen werden.

Der Name der Neurose

In der Massengesellschaft der Metropole wird Individualität zwangsläufig verknappt. Es ist das Gesetz des freien Marktes, dass sie dadurch umso wertvoller macht, gleichsam zu einer Ersatzwährung der Stadt. Ist der Geltungsdrang aka die Profilneurose deshalb also ein Bestandteil der Großstadt wie ÖPNV, Nachtleben, Gehupe und Kriminalität?

Alexander Mitscherlich, Psychoanalytiker, Schriftsteller und von 1960 bis 1976 Leiter des von ihm gegründeten Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt sah das nicht so. In der Großstadt entdeckte er gar das Gegengift gegen „Enge und Stagnation des Zweitrangigen, der Intoleranz, des Sich-Aufspielens, des unentrinnbaren kollektiven Zwangs, der scheinheiligen Beobachtung und verborgenen Tyrannei.“

Wer aber nun im Jahr 2018 an einem Wochentag-Nachmittag über die Frankfurter Konstablerwache läuft, muss gelegentlich suchen, bis er jemandem begegnet, der keinen Schlafanzug anhat, der nicht vor sich hin keift, einen Pelzmantel mit dazu überhaupt nicht passendem Pelzhut oder ein Vogelkostüm trägt. Ob Mitscherlich vor diesem Hintergrund von der Großstadt als Arznei noch so unbedingt überzeugt wäre, bleibt unbeantwortet. Mitscherlich starb 1982.

Natürlich gibt es an der Südseite der Konstablerwache doch ein paar hellwache und blitzgescheite junge Männer. Sie verkaufen Drogen. Ein heute gern genutztes Gegengift zur Bändigung der eigenen Neurosen, wenn es die Freiheit der Großstadt doch nicht vermag.

„Im Internet bin ich viel cooler“

Was der Seelenheilkundler in seiner Wirkungsphase der 60er Jahre noch nicht ahnen konnte: Fühlt sich das urbane Individuum beklemmt es könnte in der Masse der Normalos untergehen, muss es sich heute nicht nur von seinem Gegenüber in der Tram abheben, sondern auch von Tausenden Instagram-Profilen in der eigenen Stadt und Millionen weiterer in anderen Metropolen auf der Welt.

Selbstverständlich muss der Stadtmensch kein Feuerteufel oder drogensüchtig sein, um aus der Masse heraus zu stechen. Aber es reicht auch längst nicht mehr nur anders zu denken und die Dinge einfach differenzierter zu betrachten. Die anderen müssen sehen können, wie besonders man ist.

Der Übergang von Geltungsdrang zum Geltungskonsum ist deshalb fließend. Den käuflichen Zeugnissen des übersteigerten Bemühens sich in der Öffentlichkeit zu profilieren, begegnet man in der Innenstadt und am Mainufer beispielsweise in Form von Fahrrädern mit Autoreifen, Kampfhunden oder für eine Stadt mit Kopfsteinpflaster und Borsteinen völlig ungeeigneten Hoverboards. Die goldene Uhr als Statussymbol ist längst vom Stehpaddeln auf dem Main als Profilsymbol abgelöst.

Und hier beginnt dann auch schon die harmlose Domäne des nicht-neurotischen, in der die Triebfeder nicht mehr der Glaube ist, selbst etwas ganz Besonderes zu sein, sondern das Ausleben der jedem Menschen eigenen Komposition von Talenten, Interessen, Neigungen und Bedürfnissen.

Das ist der Humus, in dem kreative Impulse keimen, Trends und Moden sprießen und die gegenseitige Toleranz immer wieder erprobt wird. Die damit verbundene urbane Ungezwungenheit hat hier tatsächlich das Potential, sich von andernorts erworbenen Zwangsvorstellungen und Neurosen zu befreien, wie Mitscherlich es postulierte.

Was davon übrig bleibt ist oft sympathisch. Etwa wenn drei Freunde in der Straßenbahn vergeblich versuchen einen gemeinsamen Termin zu finden, was jedoch nur schwer gelingt, weil der eine beim „Urban Bee Keeping“ (Stadt-Imkern) sehr eingebunden ist, der andere an zwei Abenden die Woche Probe hat mit seinem Chor, der ausschließlich kommunistische Arbeiterlieder der 20er Jahre singt und der dritte zu Hause auf Stand-By bleiben muss um die sehnsüchtig erwarteten veganen Boxhandschuhe in Empfang zu nehmen.