Klappt’s auch mit dem Nachbarn?

In den unablässig wachsenden Städten wohnen und arbeiten Menschen auf kleiner Fläche nahe beieinander und nutzen gemeinsam den öffentlichen Raum zu ihrer Freizeitgestaltung. Oft ohne voneinander wesentlich Notiz zu nehmen. Und wenn doch, dann weil die Lebensäußerungen der Mitmenschen als empörend empfunden werden.

Dabei sind die Anknüpfungspunkte für erbitterte, langanhaltende Konflikte in den Städten so vielfältig wie ihre Bewohner. Und die Kontroversen sind zugleich meist deutlich komplizierter als ein über den Gartenzaun ragender Ast in einer Vorortsiedlung, die Interessenlagen und die Zahl der Beteiligten größer.
Bis die Problemlagen in den Nachbarschaften und Quartieren ins Bewusstsein der Öffentlichkeit vordringen, haben sie vor Ort längst zu tiefer Verbitterung und verhärteten Fronten geführt. Ohne professionelle Mediation und moderierte Kompromissgespräche fahren sich die meisten Lösungsversuche schnell wieder fest.

„Brennt des Nachbarn Wand, so bist du selber gefährdet.“
– Horaz

Ganz undramatisch steigt Rauch aus dem Gully empor. Ein roter Schein darin, macht es dem Dutzend umstehender Anwohner einfach, zu der einhelligen Auffassung zu gelangen, dass hier eine ungünstig entsorgte Zigarettenkippe getrocknetes Laub des Vorjahres entzündet haben muss.
Kurz darauf erscheint ein Fahrzeug der Feuerwehr, dessen Besatzung beinahe im Vorbeifahren unprätentiös einen kurzen Schwall Wasser in den Senkkasten entlässt, einsteigt und um die Ecke das Blickfeld verlässt. „Da hätte auch irgendjemand einen Eimer Wasser reinkippen können“, ist sich das Publikum einig.

Dieser „Irgendjemand“ schien jedoch nicht dagewesen zu sein.

„Irgendjemand“ ist in den Städten unserer Zeit immer öfter nicht mehr da, um Verantwortung zu übernehmen und bekommt außerdem immer weniger von irgendjemand anderem mit. Vom Leben seiner Nachbarn weiß er genauso wenig wie von ihrem Sterben und manchmal selbst dann nicht, wenn sie auf der anderen Seite der Wand seit Wochen den Weg allen Fleisches gehen.

In wenigen Jahrhunderten hat sich der Mensch eine Umgebung geschaffen, die nachgerade dem Gegenteil seines Zusammenlebens in allen Zeiten davor entspricht. Die Berücksichtigung seiner ihm eigenen körperlichen, sozialen und emotionalen Bedürfnisse integrierte er erst nachträglich und nur schrittweise in sein neues urbanes Lebensumfeld.

Die Notwendigkeit einer Kanalisation wurde dabei schon früh mit allen Sinnen erfahren. Die städtische Entsprechung von Fürsorge, Unterstützung und Anteilnahme der archaischen Stammes- und Dorfgemeinschaften gibt es dagegen bis heute nicht.
Aber immerhin Bemühungen. So rief beispielsweise die Stadt Frankfurt, nachdem sie anno 1867 den ersten Abwasserkanal angelegt hatte, im Jahr 2000 das Programm „Aktive Nachbarschaft“ ins Leben. In 20 Stadtteilen und Siedlungen unterstützen Quartiersmanager seitdem die nachbarschaftlichen Belange und fördern die sozialen und kulturellen Aktivitäten in den Stadtvierteln.

„Denn ein schlechter Nachbar ist eine so große Plage, wie ein guter ein Segen ist.“
– Hesiod

Ein Stamm mit mehr als 100 Menschen könne nicht funktionieren, soll ein Häuptling amerikanischer Ureinwohner einmal gesagt haben. Belegbar ist das nicht, ein wahrer Kern scheint aber in dieser Überlieferung zu liegen.

Denn Untersuchungen zeigen, dass junge Menschen in modernen Gesellschaften durchschnittlich etwa zehn Personen zu ihren Freunden im klassischen-analogen Sinne zählen. Darüber hinaus sind sie mit etwa 100 weiteren Menschen bekannt, denen sie regelmäßig begegnen. Die sozialen Netzwerke der digitalen Welt ermöglichen es darüber hinaus, dass sie mit vielen Hunderten anderen digital vernetzt sind, interagieren aber keine unmittelbaren Beziehungen unterhalten.

Mit letzteren würde man wohl eher nicht in den Urlaub fahren, von ihnen aber doch vielleicht mal eine Bohrmaschine oder ein Ei borgen wollen. Wären sie der Nachbar von nebenan und nicht bloß eine lange zurückliegende Bekanntschaften aus Übersee.

Klicken statt Klingeln

Diese Nische haben nun seit einiger Zeit internetbasierte Nachbarschaftsplattformen aus Deutschland und den USA für sich entdeckt. Auf ihnen findet sich im Wesentlichen das, was auch am Schwarzen Brett im Kassenbereich von Supermärkten angepinnt ist. Nur dass nun das Angebot nicht unter dem Druck quängelnden Nachwuchses im Kinderwagen und der Last der Einkaufstaschen überflogen werden muss, sondern bequem vom Smartphone aus durchgesehen werden kann.

Wer hat 10cm-Pflanztöpfe übrig? Kann jemand auf meinen Hund aufpassen, während ich im Urlaub bin? Biete zuverlässige Bügelhilfe. Welche Veranstaltungen finden in meiner Nachbarschaft demnächst statt?

Eine Nachbarschaft, die sich wie so vieles nun auch den virtuellen Raum erschließt und sich dort fortsetzt, dabei aber auch an seine Grenzen stößt. Denn um sich mit einem halben Pfund Butter aushelfen zu lassen, ist der Gang über den Hausflur selbst bei der nutzerfreundlichsten Nachbarschafts-App immer noch einfacher, als dafür eine „Gesucht“-Anzeige zu erzeugen.

Sind diese Nachbarschaftsnetzwerke überhaupt von Nachbarn für Nachbarn, wie die erprobten Formate des Nachbarschaftscafès oder des Straßenfestes?

Sind sie nicht. So wenig wie Facebook eigene Inhalte generiert, Uber eigene Autos vermietet und Ebay eigene Waren verkauft, sind auch die professionellen Nachbarschafts-Netzwerke lediglich fernverwaltete Plattformen, über die der lokale Mikrokosmos für andere Dienstleistungen und den Werbemarkt erschlossen werden soll.

„Crack the local“ lautet die Parole im US-Marketingjargon

Und tatsächlich ist die Quartiersebene ein bislang nur wenig durchdrungener Raum. Zwar gewährleisten Stadtteilparlamente die formale Schnittstelle zu Verwaltung und großer Stadtpolitik, Multiplikatoren vor Ort sind jedoch meist einzelne Stadtteil-Akteure und die ansässigen Vereine.
Andere kompromisserzeugende Kommunikatoren fehlen vielerorts jedoch. Deutlich wird das oft erst, wenn bei der Nutzung des öffentlichen Raumes für Freizeit, Wohnen, Verkehr und Gewerbe Dissonanzen entstehen. Meist müssen zur Beilegung dieser Konflikte zunächst neue Dialogformate erarbeitet werden, um zu Lösungen zu gelangen.

Neben dem Interesse der Digitalwirtschaft, die lokale Ebene „aufzubrechen“ und für sich zu erschließen, gibt es also auch den wiederkehrenden Bedarf nach professioneller Mediation und erprobten Kommunikationstools auf der nachbarschaftlichen Stadtteilebene.